Martin ist ein lieber, ruhiger und zurückhaltender zehnjähriger Waldorfschüler. Die Mutter kommt, nachdem er etwa zwei Monate die vierte Klasse besucht hat, zu uns, weil ihr Sohn sich die Buchstaben nicht richtig merken und er nicht gut von Druck- auf Schreibschrift übertragen kann.
Zu meiner Überraschung beherrscht er, obwohl Viertklässler, tatsächlich nur etwa die Hälfte des Alphabets. Es ist bei ihm einfach nicht richtig verankert, er kann sich z.B. ein “h” nicht einmal von einer Zeile zur anderen merken, die Buchstaben sind für ihn völlig abstrakt! Selbst Buchstabengeschichten, mit denen ich sonst ABC-Schützen über die ersten Schwierigkeiten hinweghelfe, kommen bei ihm nicht an. Das bestätigt die Ergebnisse meiner Anamnese, und ich vereinbare mit der Mutter eine Ernährungsumstellung.
Bereits nach einer Woche Diät klappt das Lernen und Behalten einwandfrei, und nach drei Wochen beherrscht er das ganze Alphabet sicher. Er schreibt ganze Sätze fehlerfrei, wie: “Der Junge angelt im Teich Fische, Oma liest die Zeitung mit einer Brille.”, usw.
Um einen Überblick zu bekommen lasse ich mir die Zeugnisse zeigen. Martin und seine Mutter sind recht angetan davon. Zum besseren Verständnis sei wiederholt, dass in der Waldorfschule der Unterricht in Epochen aufgeteilt ist, da wird wochenlang nur Deutsch oder Russisch oder Sachkunde unterrichtet. Im Zeugnis der dritten Klasse finde ich Formulierungen wie: “Höhepunkte... ...in denen es galt, sich handfest und herzhaft mit der Welt und den Menschen auseinanderzusetzen. Begeistert half er im Feldbau... ...freudig und sachkundig ging er in der Handwerkerepoche... mit ganzer Seele aber verband er sich mit den praktischen Aufgaben... ... aufmerksam mischte er ... und mauerte... ...so regsam und tüchtig... ... auf seinen guten Willen konnte ich mich verlassen... ... in einigen Bereichen machte Martin gute Fortschritte... ...Schreibschrift, die recht schön und geformt sein kann.” Für Englisch formulierte der Lehrer: “Martin kam ... immer öfter und länger zu aufmerksamen Mitlernen im Unterricht. Kleine Dinge konnte er schon; in der 4. Klasse wird er’s wohl stärker ergreifen.”
Etwa in dieser Art haben Martin und seine Eltern das Zeugnis interpretiert. Mir fallen aber andere Sätze in’s Auge: “ So regsam und tüchtig war Martin in der Klasse nicht immer. Wie oft musste man ihn da zum konzentrierten Mitarbeiten ermuntern. ... Vieles in seinen Heften ... deutet darauf hin, dass seine Formkräfte überfordert sind und der Stärkung bedürfen. Oder scheut Martin den anstrengenden Weg des Übens? ... So wurde deutlich, dass Martin unbedingt regelmäßiger häuslicher und fachlicher Hilfe bedarf.” Und für Russisch: “Martin schaffte es oft nicht, im Unterricht richtig mitzuarbeiten.” Und in Eurythmie: “Wenn Martin es schaffte, aufmerksam zu sein, konnte er die verschiedenen Schritte und Bewegungen meistens richtig ausführen.”
Symptomatisch ist für mich der letzte Satz: Wenn er es schaffte, aufmerksam zu sein ... konnte er meistens... Was für ein vernichtendes und - so sei’s geklagt - auch treffendes Urteil - und so positiv formuliert! Warum um alles in der Welt wird hier so viel beschönigt?! In aller Regel werden Menschen, stellt man sie vor eine Alternative, die für sie angenehmere Variante wählen! Es ist also abzusehen, dass die vorsichtig verpackte Kritik ihren Zweck verfehlen wird! Das ist keine Vermutung, sondern - wie ich aus den Gesprächen mit Martins Mutter weiß - Tatsache! “So schlecht ist das Zeugnis doch nicht!”
Im Zeugnis zur vierten Klasse heißt es dann: “Im Schreiben und Lesen hatte er mit seinen schon besprochenen Schwierigkeiten zu kämpfen.” Und weiter: “Mit ... viel häuslicher Hilfe zeigten sich Fortschritte...” Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: Ein Schüler, der erst in seinem vierten Schuljahr alle Buchstaben gelernt hat, hat beim “Schreiben und Lesen“ “mit Schwierigkeiten zu kämpfen” und erst mit häuslicher Hilfe zeigten sich Fortschritte! Sieht sich die Waldorfschule in einem solchen Fall nicht verpflichtet einzugreifen?!
Nachdem Martin bei mir in seinem vierten Schuljahr überhaupt erst einmal lesen und schreiben gelernt hat, geht mein ganzes Streben dahin, ihm das Leben eines Analphabeten zu ersparen, das heißt, er muss lernen, diese Fertigkeiten auf Dauer zu beherrschen. Interessehalber frage ich ihn nach den andern Fächern. Turnen ist schön, Eurythmie entsetzlich, Russisch interessant (er kennt kein einziges Wort, das er mir vorsprechen könnte) und Englisch (für mich) eine Katastrophe, nach Jahren sind nicht einmal rudimentäre Kenntnisse vorhanden. In meinen Augen sind die Zeugnisbeurteilungen ein Hohn!
Martin spricht mit rührender Naivität vom “Abi”, das er in ein paar Jahren machen wird - ein Ziel, das außerhalb aller seiner Möglichkeiten liegt. Ich bitte die Mutter zu einem Gespräch über die weitere schulischen Zukunft ihres Sohnes. Glücklicherweise können wir uns auf den Hauptschulabschluss einigen. Mit meinem weiteren Vorschlag, Martin auf die Regelschule zu schicken, stoße ich auf taube Ohren, das kommt nicht in Frage: Noch immer unterrichtet an der örtlichen Schule derselbe Lehrer, den die Mutter seinerzeit hassen gelernt hat, und den will sie ihrem Sohn nicht zumuten.
Natürlich sind die Vorgaben der Mutter maßgeblich und so konzentriere ich mich auf mein Ziel, ihm verlässlich Lesen und Schreiben beizubringen. Meine anfänglich erfolgversprechenden Versuche, ihm auch in Englisch weiterzuhelfen, scheitern, weil es keine Bücher gibt, keinerlei Anhaltspunkte, welcher Lernstoff beherrscht werden muss, kein Vokabelverzeichnis, usw. und auch weil der Mutter auf Dauer offensichtlich die Mühe zu groß ist, die sie in aktive Mithilfe investieren müßte.
In der Kaspar-Hauser-Schule, der Waldorf-Sonderschule wird Martins Intelligenz nach einem Test als “durchschnittlich” eingeschätzt, nach unserer Erfahrung wäre das also kein Handicap, um nicht mindestens den Hauptschulabschluss zu schaffen. Auf mich wirkt der Kleine intelligenter, als der Test aussagt, er ist unwahrscheinlich interessiert an den praktischen Dingen seines Lebens, er erklärt ohne zu überlegen die Wirkungsweise eines Autogetriebes oder die verschiedenen Funktionen eines Traktors; er weiß, was in der Landwirtschaft wann und wo gesät werden muss. Außerdem ist er ein hervorragender Stratege: In Mühle, Dame oder Reversi plant er stets mehrere Spielzüge im Voraus.
Es gelingt mir, ihn für’s Lesen zu begeistern! Erst mit kleinen Geschichten, die wir abwechselnd lesen und dann besprechen, dann mit einem dtv Junior-Pocket-Roman mit über 200 Seiten. Ich lese ihm so lange vor, bis sein Interesse geweckt ist, dann wechseln wir uns beim Lesen ab. Er liest sogar zu Hause und macht mir (unverlangte!) schriftliche Zusammenfassungen. Da ich die zahlreichen Fehler weitgehend ignoriere, verliert er auch nicht den Spaß daran, und ich finde immer wieder eine Gelegenheit, ihn beiläufig auf die richtige Schreibweise aufmerksam zu machen. Wenn er auch noch in einem Diktat von 80 Worten 28 Fehler macht (!), so ist er doch inzwischen in der Lage, seitenlange Texte zu schreiben, eine Fähigkeit, an die vor kurzem überhaupt nicht zu denken war!
Ich nehme auch noch an einer Lehrerkonferenz über Martin teil, wo ich zu meiner Überraschung explizit erfahre, dass man sich im Kollegium sehr wohl über Martins mangelnde Fähigkeiten im Klaren ist, aber nachdem in der Waldorf-Sonderschule kein Platz frei ist, die Angelegenheit auf sich beruhen lässt. Inzwischen fühle ich mich wie Don Quichotte im Kampf gegen die Windmühlenflügel. Und nachdem die Mutter wieder einmal einen Gesprächstermin platzen lässt, ziehe ich den dringend erforderlichen Schlußstrich und beende die ganze Angelegenheit. Schulische Erfolge sind nur auf der Basis vertrauensvoller Zusammenarbeit möglich und ohne nachhaltiges Engagement der Eltern nicht zu schaffen.
Merke: Martin hat schwere Legasthenie. Die Schule hat dies zwar registriert und erwähnt seine Probleme die ersten vier Jahre nur ganz dezent in den Zeugnissen, bleibt aber untätig. Erst als Martin zu uns kommt und eine entsprechend abgestimmte Diät einhält, lernt er - bei uns und nicht in der Schule - in kurzer Zeit so weit lesen und schreiben, dass er sich selbst schriftlich artikulieren kann.
Er ist so aufgeweckt und intelligent, dass wir ihm ohne weiteres die Mittlere Reife zugetraut hätten. Durch das Versagen der Schule wird er bis in die fünfte Klasse mitgeschleppt (man beachte oben den Kommentar des Englisch-Lehrers), ohne Chance auf die unbedingt notwendige Förderung!
Eine Mitschuld trifft ebenfalls die Eltern, die einfach die Augen vor dem ganz offensichtlichen Versagen ihres Sohnes verschlossen haben. Die nicht vorhandene Bereitschaft der Mutter, mit dem Sohn zu lernen, könnte eventuell, aber das entzieht sich unserer Kenntnis, darauf zurückzuführen sein, dass ihre eigenen schulischen Probleme größer waren, als sie uns gegenüber zugeben wollte. Ein Wechsel in die dritte Klasse der staatlichen Grundschule, verbunden mit entsprechender Förderung und unter Einhaltung der bei ihm schon bewährten Diät, hätte Martin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen normalen Hauptschulabschluss ermöglicht.
Wir gehen sogar noch weiter: Wäre Martin in der ersten Klasse zu uns gekommen, ihm hätten alle Möglichkeiten offengestanden! Hier sei auf das Fallbeispiel “Sven” verwiesen, der in der ersten Klasse ebenfalls als Legastheniker zu uns kam und inzwischen sein Abitur gemacht hat.