Lisa ist ein Einzelkind, kommt wegen Beckenendlage per Kaiserschnitt zur Welt, hat als Säugling zwei Leistenbruchoperationen, mehrfach Lungenentzündung und mit acht Monaten einen Krankenhausaufenthalt wegen einer Darminfektion.
Die Mutter ist sehr ängstlich und eine ausgesprochene Glucke, die ihr Küken nicht aus den Augen lässt, so dass Lisa fast zwangsläufig ein stilles, zurückhaltendes Kind wird, das nie die Möglichkeit bekommt, gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln.
Sie wird nicht regulär eingeschult, sondern kommt in die Förderschule. Niemand merkt, dass sie ein überaus intelligentes Mädchen ist und in dieser Schule völlig fehl am Platz! Im Zeugnis heißt es am Ende des ersten Jahres, sie müsse sich noch sehr mühen, um den Anforderungen gerecht zu werden. Die Versetzung in die Grundschule erfolgt nur probeweise für ein halbes Jahr.
Sie wird den Anforderungen der Regelschule nur mit mäßigem Erfolg gerecht. Sie ist weiterhin sehr schüchtern und beteiligt sich kaum am Unterricht. Die Noten reichen nicht aus, um zum Zusatzunterricht der Werkrealschule zugelassen zu werden.
Zum Beginn der 8. Klasse kommt Lisa zu uns. Beim ersten Gespräch sitzt sie, zusammen mit ihren Eltern, vor mir: Ein hübscher Lockenkopf in einem gewagt dekolltierten Sommerkleid, dem ersten Anschein nach eine junge Frau. Allerdings drückt sie sich so klein und verschüchtert in den Gartensessel, als würde sie sich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen. Sie spricht fast kein Wort, lässt die Eltern selbst ihre Empfindungen wiedergeben.
Bei der ersten Stunde ohne Eltern hat sie bei der Begrüßung nasse, kalte Hände, spricht sie so leise, dass sie fast nicht zu verstehen ist. Sie drückt den Bleistift nur ganz leicht auf das Papier, damit es leicht wegzuradieren ist - was sie schreibt, kann wohl kaum richtig sein! Lisa ist ein armer Mensch ohne jegliches Selbstvertrauen und absolut streßblockiert.
Durch gezielte Maßnahmen (z.B. indem Situationen geschaffen werden, in denen sie ihr Wissen zeigen kann) wird ihr portionsweise Selbstbewusstsein vermittelt. Nachdem eine ausreichende Vertrauensbasis vorhanden ist, öffnet sie sich langsam immer mehr und beginnt sehr viel von ihrer Familie zu erzählen. So wird es möglich, streßverursachenden Faktoren entgegenzuarbeiten.
Ein ausgesprochen traumatisches Erlebnis wurde durch eine Äußerung der Großmutter verursacht: Ach, aus Lisa wird mal gar nichts, die schafft doch nichts! Diesen Ausspruch erzählt die Mutter, ohne sich die möglichen Folgen zu überlegen, an Lisa weiter und trägt damit ein Gutteil dazu bei, das Selbstvertrauen ihrer Tochter weiter zu beeinträchtigen.
Wie falsch Lisas Fähigkeiten eingeschätzt werden, zeigt sich, nachdem ihr Selbstbewusstsein systematisch gestärkt wird und die für sie geeignete Lern- und Arbeitsmethodik vermittelt ist. Sie macht den Hauptschulabschluss als Jahrgangsbeste mit der Note 1,9. Dann geht sie den sehr schwierigen Weg über die zweijährige Wirtschaftsschule zur mittleren Reife und zählt auch hier zu den Jahrgangsbesten.
Auf Drängen der Mutter, die Lisa - beinflusst durch die Schwarzmalerei der engeren Verwandtschaft - nichts zutraut, schließt sie einen Ausbildungsvertrag ab. Ich bedauere das sehr, da sie in den vergangenen Jahren ausreichend bewiesen hat, welches Potential und vor allem, welcher Ehrgeiz in ihr steckt. Sie gehört zu den Menschen, die ihre Ziele realisieren können!
Ein paar Wochen später ruft sie an, energiegeladen wie immer in der letzten Zeit, und berichtet von ihrer Meinungsänderung. Trotz Bewerbungsschlusses hat sie wegen ihrer guten Noten noch einen Platz auf dem Wirtschaftsgymnasium bekommen und deshalb den Ausbildungsvertrag gekündigt!
Zwangsläufig fällt das Leistungsniveau in der elften Klasse etwas ab, was dazu führt, dass die besorgte Mutter ihr wieder ständig in den Ohren liegt, sie solle doch besser eine Ausbildung machen! Aber Lisa ist inzwischen eine so gefestigte Persönlichkeit geworden, dass sie sich nicht mehr beirren lässt. Glücklicherweise findet sie in ihrem Vater viel seelischen Rückhalt.
Nach einem England-Aufenthalt ist sie vollkommen denkblockiert, und alles je Gelernte scheint wie weggeblasen. Bei ihrer Vorgeschichte fällt der erste Verdacht natürlich auf irgend welchen emotionalen Stress als Auslöser, aber nach einer umfangreichen Analyse der vergangenen Wochen lässt sich die Ursache an der Ernährungsweise in England festmachen: Massenhafte Zuführung von Fast-Food-Produkten! Hier kommt eine latent vorhandene, zusätzliche Nahrungsmittel-Unverträglichkeit zum Vorschein. Da Lisa generell nichts an Süßigkeiten liegt, und da ihre Mutter aus Überzeugung keine Fertigprodukte verwendet, war eine allergische Disposition, bzw. eine Pseudo-Allergie bis jetzt nicht in Betracht gezogen worden. Unter den gegebenen Randbedingungen ist eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten nicht erforderlich, es reicht der Hinweis, z.B. Kuchen und Eis nur während der Ferien zu essen. Die Priorität bleibt weiterhin beim Abbau des emotionalen Stresses und Stärkung des Selbstbewusstseins.
Natürlich bleiben Rückschläge nicht aus, aber was sie nicht selber meistert, wird - da sie nach wie vor sehr offen ist - mit tatkräftiger psychischer Unterstützung überwunden. In der zwölften Klasse ist davon auszugehen, dass sie das Abitur vermutlich mit einem Schnitt von 2,5 schaffen wird, eine Leistung, die um so höher einzuschätzen ist, wenn man ihren schulischen Werdegang betrachtet.
Aus dem verschüchterten Mädchen ohne jegliches Selbstvertrauen ist eine junge Frau geworden, die ihre Lebensplanung in die eigenen Hände genommen hat und ihre Ziele tatkräftig und mit viel Beredsamkeit verfolgt. Sie ist sozial engagiert, hat eine eigene Meinung und steht dazu, auch in der Schule vor den Lehrern. Ihre Interessen reichen von Politik bis Kunst und Literatur, Geschichte und Religion.
Nachtrag: Mittlerweile hat Lisa nicht nur das Abitur mit einem Schnitt von 2,3 erfolgreich abgeschlossen, sondern sich auch zu einem Fernstudium Bachelor als Berufsbetreuer entschieden. Mit dem dort erworbenen Wissen kann sie sich beruflich im sozialen Bereich engagieren. So hat sie in Zukunft die Möglichkeit anderen Menschen zu helfen und diese zu unterstützen und fördern.
Merke: Hätten sich die Eltern mit der in den Zeugnissen dokumentierten schulischen Mittelmäßigkeit abgefunden - das große geistige Potential ihrer Tochter hätte brach gelegen. Lisa ist ein Paradebeispiel dafür, welche Bedeutung die Stärkung des Selbstbewusstseins für die Entwicklung unserer Kinder hat! Zu wissen, wozu man selbst fähig ist, verbunden mit den richtigen Anleitungen, wie ich dieses Wissen einzusetzen habe, ist einer der Schlüssel zum Erfolg. Und wie immer ist eine gutmeinende, dominante Mutter der Klotz am Bein...