Familie L.

Frau L. empfindet ihre erste Ehe im Nachhinein als “einzige Katastrophe”. Sie ist überaus erleichtert und dem Schicksal dankbar, trotz Kind noch einmal einen Ehemann gefunden zu haben. Neben dem Sohn Mathias, den sie in die Ehe mitbringt, hat sie mit ihrem zweiten Mann noch ein gemeinsames Kind.

 

Mathias ist in der 6. Klasse, hyperaktiv, hat große Konzentrationsschwierigkeiten und infolgedessen Schulprobleme. Die AD(H)S -Symtome bekommen wir nach einiger Zeit mit einer Nahrungsmittelumstellung (siehe dort) in den Griff, um so auffälliger sind die Auswirkungen der Hyperaktivität. Nach ausführlichen Gesprächen mit Mutter und Sohn wird die Ursache dafür klar. Herr L. hat mit seinem Stiefsohn ehrgeizige Pläne. Neben einem guten Schulabschluss hat er für Mathias eine Laufbahn als Fußballprofi vorgesehen. Dafür soll er bei mir sein Englisch verbessern, er selbst übt mit ihm Mathematik. Und für die sportliche Karriere bringt er den Jungen in einem Verein in der nächsten Kreisstadt unter.

 

Nach den genannten Gesprächen habe ich mir den wöchentlichen Zeitplan des 12-jährigen notiert:

 

  • Montag ist Auswahltraining in der Kreisstadt, Zeitaufwand (jeweils mit Fahrtzeit) von 16.00 bis 19.30h
  • Dienstag ist Schule bis 15.30h, Training am Ort zwischen 17.30 und 19.00h
  • Mittwoch ist alle vier Wochen ein Auswärtsspiel, mit von der Entfernung abhängigem Zeitaufwand.
  • Donnerstag Englisch-Nachhilfe bis 16.30h, 17.30 bis 19.00h Training am Ort
  • Freitag Punktspiele 17.30 bis 20.00h, bzw bis 21.30 bei Auswärtsspiel
  • Samstag Besuch beim leiblichen Vater
  • Sonntag Training 9.30 bis 12.00h


Bis auf Dienstag ist er jeden Tag gegen 13.30h zu Hause, die Hausaufgaben und die Vorbereitungen für Klassenarbeiten werden irgendwie und irgendwann zwischen die Termine gequetscht.

 

Der Stiefvater fordert bessere Noten von ihm ein, ist gleichzeitig nur bereit, ihm mit Mathe weiter zu helfen, wenn er hart trainiert und sich Fortschritte bei seinen Spielen zeigen. In der Konsequenz treten bei Mathias nach körperlichen Anstrengungen immer häufiger Migräne-artige Kopfschmerzen auf, fallweise mit Erbrechen verbunden. Es ist offensichtlich, dass er den auf ihm lastenden Erwartungsdruck nicht aushält. Frau L. sieht zwar, wie ihr Sohn leidet, wagt es aber nicht, sich gegen die Vorstellungen ihres Mannes durchzusetzen.

 

Mathias ist erst das zweite Mal bei mir, als er mir den typischen Ablauf einer Mathe-Übungsstunde schildert. Der Stiefvater sitzt neben ihm am Tisch und überwacht jeden Bleistiftstrich. Beim geringsten Irrtum wird losgeschrieen, und er muss sich Beschimpfungen anhören, wie: “Du bist echt zu blöd für die einfachsten Sachen!” Unter solchen Randbedingungen ist verständlich, dass Mathias vor Stress kaum mehr klar denken kann, wenn sich sein Stiefvater nur neben ihm niederlässt!

 

Mit der Mutter verabrede ich daraufhin, dass sich ihr Mann in der nächsten Zeit völlig aus den Schulbelangen heraushält. In der ersten Mathestunde zeigt Mathias auch bei mir die gleichen Stress-Blockaden. Aber meine Vorgehensweise ist ganz anders, als er es bislang erlebt hat. Ich lasse ihn ungestört eine Aufgabe rechnen - sie ist natürlich falsch. Da wir keine Fehler trainieren (und verinnerlichen) wollen, gibt es keine “falschen” Lösungen oder Lösungsansätze mehr, Ergebnisse sind nur “noch nicht ganz richtig”. Tadel oder gar Schreierei sind selbstverständlich “mega-out”! Er bekommt nur den Hinweis, dass die Rechnung an der einen oder anderen Stelle noch einmal nachzuprüfen sei. Bereits mit diesen Verhaltensmaßregeln aus der lernpädagogischen Mottenkiste ist es möglich, erste minimale Erfolgserlebnisse zu vermitteln: Wer bislang jeden Strich unter permanentem Stress geschrieben hat, muss automatisch jede Feststellung, eine Lösung sei “noch nicht ganz richtig”, als halbe Bestätigung auffassen!

 

Da ich mit meinen Erklärungen voll und ganz auf Mathias Bedürfnisse abstelle, kann er sie bei der nächsten Aufgabe gleich richtig umsetzen. Ich “bescheinige” ihm gute Mathefähigkeiten, und mein Lob ist eine völlig neue, unbekannte Erfahrung für ihn.

 

Das nächste Mal lege ich ihm ein ganzes Aufgabenblatt vor und sage ihm, er solle das in Ruhe bearbeiten, ich hätte nebenan zu tun. Da er mir schon das letzte Mal bewiesen habe, was er für ein schlauer Kopf sei, wäre ich sicher, er würde die Aufgaben ohne Schwierigkeiten schaffen. Wesentlich früher als ich vermutet hatte, legte er mir die gelösten Aufgaben vor, zu unserer beiderseitigen Freude waren sie völlig fehlerfrei!

 

Am nächsten Tag schrieb er in der Schule die Mathe-Arbeit mit 2-3, nach 5+ und 4-5 vorher. Kommentar des Stiefvaters: “Anscheinend kannst du, wenn du nur willst, du fauler Sack!”

 

Leider war es nicht möglich, den Stiefvater auf Dauer dazu zu bringen, sich in schulischen Angelegenheiten zurück zu halten. Ein weiteres Kind wurde geboren, und die familiären Spannungen nahmen immer mehr zu und mit ihnen der emotionale Stress für Mathias. Die Familiensituation war von mir nicht mehr zu beeinflussen, die Eltern sperrten sich gegen alle meine Versuche, die Lage für ihn erträglicher zu machen. Mathias war ständig blockiert, und das “Brett vor dem Kopf” störte ihn selbst sehr. Innerhalb kurzer Zeit fiel er in ein tiefes seelisches Loch, und ich konnte ihn nicht mehr erreichen.

 

Für mich ein trauriges Kapitel unter der Überschrift: Ein typischer Schulversager - vom Elternhaus produziert!

 
Merke: Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass Kinder die Möglichkeit haben müssen, Kinder zu bleiben. Kind sein heißt, sich auf spielerische Weise entwickeln zu können, nicht nach dem Terminplan ehrgeiziger Erwachsener. Es ist wohl eine nicht wegzudiskutierende Tatsache, dass sportliche Höchstleistungen mit dem Verlust des Kind-sein-dürfens zu bezahlen sind. Wer es vor sich und seinem Kind verantworten kann, diesen Weg zu gehen, der möge es tun. Wir können nicht beurteilen, ob das Wohl des Kindes auf der Strecke bleibt - das muss jeder vor sich und seinem Kind verantworten!

 

Urlaub am schönen Bodensee: Ein Ziel von vielen: Ein Ausflug zum Affenberg!

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